Der Mann am Boden

Dass ich vielleicht nicht einfach ignorant bin, oder dass diese Ignoranz ein gewisser Selbstschutz ist, der sich mit einer Abgestumpftheit mischt, wurde mir auf meiner Reise in Kathmandu schmerzlich bewusst. An so vielen bettelnden Menschen geht man in dieser Stadt Tag für Tag vorbei und lässt sie links oder rechts liegen – wo gerade der bequemste Weg vorbei führt – helfen kann man ja eh nicht allen. Dass es diese Abgestumpftheit war, die mich auch an einem Mann vorbeigehen liess, der halb auf der Strasse, halb auf dem Gehsteig lag (der schläft halt, dachte ich mir), drang erst später in mein Bewusstsein. Zwar liess eine Person, die aufmerksamer war als ich, bald jemanden rufen. Denn als ich nach zehn Minuten wieder vorbeikam (ich hatte mich mal wieder verirrt), stand ein Polizist bei dem Mann, zuckte die Schultern und lief davon – ob das was Gutes verhiess oder ob ich doch irgendwie hätte einschreiten müssen, weiss ich nicht.

Dieser Tag war eingenommen von meinem Ausflug nach Patan, einer Stadt älter und schöner als Kathmandu, ich zog also mein Touri-Programm weiter, inklusive Kauf einiger lokalen Dinge welche ich mir regelrecht hab aufschwatzen lassen. Als ich dann nach Hause irrte, fragte ich mich, ob ich mich nicht hab reinlegen lassen. Der Gram darüber mischte sich mit dem schlechten Gewissen wegen des Mannes, den ich am Vormittag (in diesem Falle rechts) hatte liegen lassen. Jedenfalls liessen Selbstvorwürfe schnell meinen Kummer darüber, dass ich mich abzocken liess, verfliegen. Und als ich in dieser Nacht kurz vor dem Einschlafen das Rasseln einer Spraydose hörte – nicht von einem Graffitikünstler, nein, sondern von einem Strassenkind, das sich mit Lösungsmitteln wegballerte – erschienen mir diese Sorgen geradezu lächerlich.

Ich dachte viel über den auf dem boden liegenden Mann und über die Konsequenzen meines nicht-Handeln nach, im schlimmsten Falle verantworte ich das Leben eines Menschen.

Ich bin ein Tourist, habe keine Ahnung was “normal” ist und was nicht. Würde ich als Tourist ernstgenommen werden? Was kann ich machen, ist es schlau die Polizei zu rufen oder gibt das dem Mensch noch mehr Probleme? Oder verstecke ich mich hinter der Touristen-Maske? Warum macht niemand was, obwohl viele Personen die Situation sahen? Ich als Mensch spüre einen Drang zu helfen, bin aber auch überfordert. Ich hätte ihn zumindest ansprechen und fragen sollen, ob er Hilfe braucht. Das schlechte Gewissen, das lange an mir nagte, war definitiv ein mindestens so grosser Stress wie die Überwindung dieser Berührungsangst.